Jeder vierte deutsche Viertklässler kann nicht richtig lesen. Soweit der Befund der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) aus dem Jahr 2021, der kürzlich vorgestellt wurde. Die wortreichen Erklärungs- und Beschwichtigungsversuche der Kultusminister ließen nicht lange auf sich warten: Die Pandemie, die vielen Migrantenkinder, der Fernseh- und Social-Media-Konsum, die Wohlstandsverwahrlosung etc. pp.: Alles nicht falsch; trotzdem liegt es neben der Sache. Denn die genannten Probleme gibt es in unseren Nachbarländern ebenfalls – und zwar ohne einen vergleichbaren Einbruch bei der Schreib- und Lesekompetenz.
Bemerkenswert ist, dass die Bildungsverantwortlichen – und damit meine ich nicht die Lehrer, sondern deren Vorgesetzte in Kultusministerien und Bildungsverwaltung – stets den Zeigefinger nach außen richten, ohne sich bewusst zu machen, dass drei Finger derselben Hand auf sie selbst zurückweisen. Es lohnt sich also, einmal dort zu gründeln, wo Bildungsentscheidungen gefällt werden. Denn der Fisch stinkt vom Kopfe her, und zwar immer.
Während meines Lehramtsstudiums in den späten 70er Jahren lautete ein – wie wir glaubten: revolutionäres – pädagogisches Credo, dass man eigentlich kein Wissen erwerben müsse, außer der Kompetenz, die benötigten Informationen an den jeweils richtigen Stellen zu suchen. Dieses Credo ist bis heute wirksam, was sich darin zeigt, dass selbst Grundschulkinder heute nicht mehr von Lehrern unterrichtet, sondern von „Lernbegleitern“ „gecoacht“ werden. Absurd daran ist, dass schon bei Sechsjährigen eine intellektuelle und charakterliche Reife vorausgesetzt wird, die im Normalfall am Ende schulischer Bildung erreicht wird. Was hier passiert, ist nichts Anderes als die Abwälzung der Verantwortung für den Bildungserfolg auf die Schüler. Damit sind Schulen und Bildungsverwaltung aus dem Schneider.
In den vergangenen 40 Jahren ging es immer weniger um das „Was?“ schulischer Bildung, dafür immer mehr um das „Wie?“. Anders gesagt: Der Didaktik wurde von der Methodik der Garaus gemacht. Die Methode des Lernens wurde zu einem sich selbst genügenden Lehrstoff geadelt, statt einem solchen dienstbar gemacht zu werden.
Lehrpläne, die traditionell und mit gutem Grund stoffzentriert angelegt waren, wurden durch kompetenzzentrierte Curricula ersetzt. Auf den Zeugnissen der Schüler werden heute nicht mehr die Leistungen in bestimmten Fächern bewertet, sondern ihr Fortschritt in bestimmten Kompetenzen – was insofern bemerkenswert ist, als dadurch der Maßstab in den Schüler selbst verlegt, also subjektiviert wird. Wer z.B. für die Lösung einer Rechenaufgabe im letzten Jahr 30 Minuten brauchte, heute jedoch nur noch 20 Minuten, hat seine Kompetenz fraglos deutlich verbessert. Die Frage ist, welchen Wert derlei hat, wenn der Klassendurchschnitt bei zehn Minuten liegt.
Man stelle sich folgendes Szenario vor: In einer Klasse sitzt ein Schüler, der allen anderen weit voraus ist. In derselben Klasse befindet sich auch ein Schüler mit erheblichem Entwicklungsrückstand. Wenn letzterer nun seinen Rückstand in einem Schuljahr halbiert, wird man ihm einen größeren Kompetenzzuwachs attestieren als seinem Mitschüler, der ihn an Wissen und Reife zwar überragt, aber kleinere Schritte macht, weil er Pionierarbeit leistet. Das bedeutet, dass dieser ein schlechteres Zeugnis bekommen müsste als jener. Ist das gerecht? Oder ist das gar gewollt?
Zumindest wird es billigend in Kauf genommen, denn es entspricht perfekt jener absurden Gleichheits- und Inklusionstheologie, die sich nicht auf den Universalismus unseres Grundgesetzes beruft, sondern auf den Partikularismus der Identitätspolitik, die einhergeht mit der Nivellierung von Individualität durch Einordnung in fragwürdige Schubladen. Und da muss man den Überfliegern halt Steine in den Weg legen und den Nachzüglern rote Teppiche ausrollen, damit am Ende alle "gleichgestellt" sind. So funktioniert Inklusion und erweist sich damit als exklusiv.
An vielen Universitäten der USA ist es längst gang und gebe, für nichtweiße Studienbewerber die Hürden zu senken und sie für weiße anzuheben. Das bedeutet, dass ein schwarzer Bewerber einem weißen Bewerber auch dann vorgezogen wird, wenn er einen schlechteren Notendurchschnitt als dieser vorweist. Dies geschieht mit der Absicht, einem angeblichen strukturellen Rassismus entgegenzuwirken und "Gleichstellung" zu erreichen. Dabei wird nicht nur nach Kräften ignoriert, dass es sich um krachenden Rassismus handelt, wenn die Studienplatzvergabe letztlich von der Hautfarbe abhängt, sondern auch, dass das intellektuelle Niveau insgesamt sinkt, wenn man die hellsten Köpfe konsequent exkludiert.
Womit wir wieder bei der Schreib- und Lesekompetenz wären. Einer so verstandenen Inklusion dient eben auch die Absenkung der Anforderung an orthographische Akkuratesse. Diese wird von Mainstream-Pädagogen als Distinktionsmerkmal einer privilegierten Schicht wahrgenommen und für irrelevant, ja sogar für diskriminierend, erklärt, weil sie ja Kindern aus unterprivilegierten Milieus angeblich den sozialen Aufstieg verwehrt. Dürfte jeder also schreiben, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, wäre – so die Idee – eine Hürde auf dem Weg zur Gleichstellung genommen. Dass dadurch das Rechtschreibniveau insgesamt sinkt, scheint niemanden ernsthaft zu stören. Denn wo gehobelt wird, fallen schließlich Späne.
Über die fahrlässige Widersinnigkeit dieses Ansinnens, welches die fundamentale Bedeutung einer sicheren Schreib- und Lesefähigkeit für die angestrebte Kompetenz des „Lernen Lernens“ vollkommen ignoriert, und sich insofern selbst ad absurdum führt, kann ich heute nicht einmal mehr lachen. Denn wie soll in einem Lexikon oder Wörterbuch eine Information gefunden werden, wenn der Suchbegriff nicht einmal buchstabiert werden kann?
Merke: Gleichstellung ist erreicht, wenn alle gleich schlecht lesen können. Mission accomplished.
© Martin Elsbroek 2023