© Martin Elsbroek
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Wortkunst

Heute bin ich meinen Eltern dankbar, ohne die Verführungen des Fernsehens aufgewachsen zu sein. Denn erst aus Anlass der Olympischen Spiele in München 1972 – ich war gerade siebzehn geworden – kam ein entsprechendes Gerät ins Haus.

Damals indes fühlte ich mich abgehängt von Freunden und Mitschülern, die ihre Pausengespräche mit dem Fernsehprogramm des Vorabends füllten.

Und wie außerirdisch muss heutigen Jugendlichen die Vorstellung sein, Freizeit lesend oder radiohörend zu verbringen! Die Seiten umblätternd, statt sie mit der Fingerkuppe wegzuwischen; lange Konzentrationsspannen haltend, ohne vom Grundrauschen permanenter Online-Präsenz abgelenkt zu werden. Wir Kinder der 60er Jahre frästen uns abends durch den Bestand der kirchlichen Borromäus-Bücherei um die Ecke. Und wenn wir ins Bett geschickt wurden, lasen wir halt mit der Taschenlampe weiter. Fünf Freunde, Geheimnis um, Winnetou I-III – nichts entkam uns.

Der Fernseher, als er dann endlich kam, schnitt diesen Lesefluss radikal und nachhaltig ab.

 Anfang der achtziger Jahre dann kam Der Name der Rose von Umberto Eco über mich wie eine Naturgewalt. Von diesem Buch war ich nicht zu trennen, bis es ausgelesen war. Und als es ausgelesen war, begann ich es von neuem. Einsilbig und gereizt reagierte ich auf jedermann, der die Lektüre störte. Nach fast zehnjähriger Pause hatte ich als Erwachsener das Lesevergnügen meiner Kindheit wiedergefunden, welches darin bestand, mit Haut und Haaren Teil des Buches zu werden, mich in ihm einzurichten, darin zu wohnen, mich darin behaglich zu fühlen. Ja, fühlen ist das richtige Wort. Bücher fühlen sich für mich an wie Räume. Wie raumzeitliche Gebilde mit eigener Atmosphäre, eigenem Tempo und eigenen Gesetzen. Räume, von denen ich nach wenigen Seiten weiß, ob ich in ihnen verweilen möchte. Und Räume auch, in die ich immer wieder gern zurückkehre. Tröstliche, sichere Räume. Refugien, in denen ich gelegentlich um Asyl bitte.

© Martin Elsbroek 2024